Manchmal schreibt das Leben Geschichten und Dramen, die kein Schriftsteller oder Drehbuchautor erdenken könnte. So lesen sich auch Teile der Apothekengeschichte wie ein spannender Roman. Und wie im im Roman gibt es den Guten, der die Sympathie des Leser hat, und den Bösen, der dem Guten ans Leder will. Und auch hier scheint ab 1942 ein böser Widersacher in das Leben der guten Familie Schmidt zu treten. Wilhelm Michler, der Apotheker, der die Wiesental-Apotheke übernehmen und somit dem Apotheker Schmidt in die Quere kommen sollte, kommt auf den Seiten dieser Homepage ziemlich schlecht weg: einerseits der unbescholtene, auch politisch unbeugsame und bliebte Julius Schmidt, andereseits der fremde, plötzlich in Szene tretende Wilhelm Michler, noch dazu, besonders suspekt, (eventuell) Parteimitglied der NSDAP. Gut und Böse, fein säuberlich getrennt, fast wie im Film.

Ist das tatsächlich so?

In der heutigen Zeit sind wir fernab von Krieg und Diktatur eher dazu geneigt, alles in einer Schwarz-Weiß-Schattierung zu sehen. Über die weite Entfernung der Zeit und aus dem bequemen Liegestuhl ist es recht einfach, persönliches Verhalten und fehlende Haltung in schlimmer Zeit zu kritisieren. Das perönliche Urteil ist schnell gefällt. Auch bei dem Alkoholiker Otto Eccard scheint der Fall ja klar zu sein. Daß hier vermutlich seine Fronttraumata aus den Schützengräben des ersten Weltkrieges wenige Jahre zuvor mit hinunterspült werden sollten und die Weltwirtschaftskrise mit all ihrem Elend tobte, wird von uns nur allzuschnell vergessen. Hinzu kommt die tragische Tatsache, daß zu dieser Zeit das Krankheitssymptom der "posttraumtische Belastungsstörung" vollkommen unbekannt war oder ganz bewusst ignoriert wurde und die "Kriegszitterer" als unmännliche Simulanten diffamiert, mit Elektroschockbehandlungen traktiert und zwischen 1915 und 1918 als "unnütze Esser" in den Nervenheilanstalten durch Hunger oder im Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten planmäßig und technokratisch ermordet wurden - nicht zuletzt auch deshalb, um die Sozialausgaben des Staates für Veteranen niedrig zu halten, also ausgerechnet die Unterstützung für die jungen Männer, die gerade für diesen Staat Gesundheit, Leib und Leben aufs Spiel gesetzt hatten. Nietzsches Bezeichnung für die Staaten als die "kältesten aller kalten Ungeheuer" lässt grüßen.

Genau so offenbart sich auch bei Wilhelm Michler bei näherem Hinsehen ein persönliches Drama, der den so einfachen Blickwinkel jahrzehntelanger Entfernung genau so zurechtrücken muß - das, um der historischen Gerechtigkeit willen, nicht, um einer Person eine Art Absolution zu erteilen.

Tatsache ist: Wilhelm Michler ging nicht freiwillig nach Steinen. Er war vor dem Krieg seit 1925 in Neuenburg am Rhein tätig und hatte sich dort in den Vorkriegsjahren eine ruhige, solide und gesicherte Existenz als gut situierter und selbständiger Apotheker mit der Rhein-Apotheke aufgebaut. Vor 1939 war es vermutlich für ihn ein vollkommen abwegiger Gedanke, wenige Jahre später noch einmal vollkommen von vorne anfangen zu müssen. Doch es kam anders. Carl von Clausewitz, der bekannteste und vermutlich auch am meisten mißbrauchte deutsche Kriegstheoretiker spricht in seinem Werk "Vom Kriege" 1832-1834 von den berühmten "Friktionen": kleinen, manchmal unscheinbaren, auf jeden Fall nicht vermeidbaren oder vorhersagbaren Vorkommnissen, Fehlern und Unwägbarkeiten, die trotz augenscheinlicher Perfektion und Planbarkeit einer Gesamtsituation zu vollkommen unerwarteten und chaotischen Endresultaten führen können. Das Schicksal des Wilhelm Michlers ist ein perfektes Beispiel, wie schnell ein "geregeltes Leben" durch äußerliche Umstände über den Haufen geworfen werden kann.
Leider haben die Nachfahren der Familie Michler keinerlei Dokumente mehr in ihrem Besitz - ein leider allzu oft vorkommendes Schicksal, das zu immer währendem Vergessen von Personen und Ereignissen führt. Glücklicherweise gibt es weiterhin Menschen und Institutionen, die sich gegen dieses Vergessen stemmen - und politische Entscheidungsträger, die die Weitsicht haben, dieses öffentliche Interesse auch zu finanzieren. Obwohl die heute so beliebt gewordene "Kosten-Nutzen-Berechnung" dagegen spricht. Eine solcher Hort des kollektiven Gedächtnisses ist das Stadtarchiv Neuenburg und dessen leiter Winfried Studer. Als einzige heute noch verfügbare Quelle konnte er folgende kurze Informationen zur Verfügung stellen:

 "Den Akten im Stadtarchiv Neuenburg am Rhein entnehme ich, dass das Ministerium des Innern in Karlsruhe am 5. Oktober 1925 "dem Apotheker Wilhelm Michler, geboren am 23. Aug. 1885 in Bonndorf, die persönliche Berechtigung zum Betrieb der Apotheke in Neuenburg verliehen" hat. Zum Betrieb der Apotheke hat Michler ein Wohn- und Geschäftshaus der Stadt in der Schlüsselstrasse angemietet. Das Anwesen wurde vom 10. auf den 11. Juni 1940 mit der Stadt Neuenburg am Rhein völlig zerstört. Nach einer Notiz in den Akten wohnte die Familie Michler nach der Zerstörung der Apotheke vorübergehend in Freiburg im Breisgau, Burgunderstrasse 7. Über die politische Tätigkeit von Herrn Michler geben die Akten nichts her. Mir selbst ist der Name Michler in dieser Hinsicht auch nie zu Ohren gekommen."

Was passierte in Neuenburg?

Neuenburg war als Grenzstadt von strategischer Bedeutung. Zu Beginn des zweiten Weltkrieges, als auf Reaktion auf den Polenfeldzug ein Einmarsch französischer Truppen befürchtet wurde, lag hier ein Teil der 260. Infanteriedivision. Da die Franzosen wider Erwarten ihren polnischen Verbündeten nicht beistanden, wurde aus dem erwarteten Blitzkrieg der "Sitzkrieg" von September 1939 bis April 1940. Das deutsche Reich konnte in aller Ruhe Polen erobern und den Westfeldzug vorbereiten. Am 10. Mai 1940 griff Deutschland an. Im Westfeldzug ("Fall Gelb") wurden zuerst im sogenannten "Blitzkrieg" die Niederlande, Belgien und Luxemburg besetzt, danach ("Fall Rot") Frankreich. Dies hatte für die Grenzstädte im deutsch-französischen Grenzgebiet zum Teil verheerende Folgen.

Neuenburg1940
Die Mariä-Himmelfahrtskirche brannte am 12. Juni 1940. Foto: Stadtarchiv Neuenburg

Eine sehr gute Darstellung der Ereignisse in Neuenburg hat der Hauptamtsleiter und Leiter des Stadtarchives Winfried Studer zusammengestellt:

"Neuenburg am Rhein war die erste deutsche Stadt, die - in der Nacht vom 10. auf den 11. Juni 1940 - im Kugel- und Granathagel des Zweiten Weltkrieges zu einem großen Teil zerstört wurde. Es war das dritte Mal in ihrer Geschichte, dass die Zähringerstadt dem Erdboden gleichgemacht wurde. Während des Beschusses waren nur noch wenige Menschen in der Stadt. Frauen mit Kindern sowie alte und gebrechliche Leute hatten die Stadt bereits am Abend des 3. September 1939 verlassen müssen, da die Nationalsozialisten stündlich einen Feuerüberfall der Franzosen als Reaktion auf den Einmarsch deutscher Truppen in Polen am 1. September 1939 befürchteten. Die Neuenburger wurden mit Sonderzügen zunächst nach Konstanz und später nach Bayern gebracht. Da die Front, abgesehen von gelegentlichem Maschinengewehrfeuer, ruhig blieb, durften die Evakuierten Ende Dezember in ihre Heimatstadt zurückkehren. Während der deutschen Westoffensive, genauer: am Nachmittag des 26. Mai 1940, beschoss die französische Artillerie Neuenburg 30 bis 40 Minuten lang mit Schrapnells. Noch am Abend kam der Befehl, die Stadt bis am Nachmittag des darauf folgenden Tages erneut zu räumen. Mit den nötigsten Habseligkeiten auf den Wagen verstaut, zogen die Neuenburger in einem langen Treck zur Stadt hinaus. Die Frauen und Kinder waren schon am Tag zuvor evakuiert worden. Die Flüchtlinge kamen in den Nachbargemeinden Sulzburg, Laufen, St. Ilgen, Britzingen, Muggardt, Dattingen und Sitzenkirch in privaten Quartieren unter, wurden aber gemeinschaftlich verpflegt. Die Verwaltung wurde nach Sulzburg verlagert, von wo aus Ratsschreiberin Rosa Weidner die Amtsgeschäfte führte. Bürgermeister Eduard Linsenboll blieb mit 15 weiteren Bürgern zum Schutz und zur Sicherung der Stadt zurück. Am 9. Juni 1940 begannen die Franzosen mit der großen Beschießung von Neuenburg. Der größte Teil der Stadt wurde in der Nacht vom 10. auf den 11. Juni zerstört. Es brannte an allen Ecken und Enden der Zähringerstadt. Die Röte, die das Flammenmeer an den Nachthimmel warf, sei auch noch in Zell im Wiesental zu sehen gewesen, wurde berichtet. Am 12. Juni stand die Maria-Himmelfahrts-Kirche in Flammen. Der Glockenturm leuchtete wie eine riesige Fackel hinaus ins Land. Einen Tag nach dem Waffenstillstand mit Frankreich vom 15. Juni kehrten die ersten Bürger in die zerstörte Stadt zurück. Sie fanden nur noch verschüttete Straßen, rauchende Trümmerhaufen und zerbombte Häuser vor. Am 3. Juli kamen die deutschen Truppen über die von Pionieren errichtete „Schwabenbrücke“ zurück in die Heimat.".

Somit ist klar, daß die heile Welt der Familie Michler nach 14 Jahren in einer gutgehenden Innenstadtapotheke bereits mit der Evakuierung 1939, spätestens mit der Zerstörung 1940 zerbrach. Da es bereits Vorzeichen gab, wird die Familie nicht wie viele Millionen anderer Familien in den Bombennächten des zweiten Weltkrieges alles auf einen Schlag verloren haben, sondern konnte vermutlich den mobilen Besitz, auf jeden Fall aber die Wertsachen in Sicherheit bringen. Und, damals wie heute ein Trost, kam es nicht zum Verlust von Menschenleben. Wilhelm Michler findet wohl kurzzeitig Arbeit in der Schwarzwald-Apotheke Freiburg, denn die wird bei der Erteilung der Betriebserlaubnis am 27.01.1942 erwähnt.

Außerdem muß man sich vor Augen führen, daß zu diesem Zeitpunkt im Reichsgebiet bei der normalen Bevölkerung selbst tiefste Friedensstimmung und eitel Freude Sonnenschein herrschte: an allen Fronten wurde ein sehr erfolgreicher Angriffskrieg geführt, und die restlichen Völker Europas hatten genug mit sich selbst zu tun, um dem anrollenden deutschen Heer Widerstand leisten zu können. Vergessen war im Reich das Elend und der Dreck der Schützengräben des ersten Weltkrieges, statt dessen durchpflügten die deutschen Panzerdivisionen scheinbar mühelos und unaufhaltsam alle feindlichen Frontlinien, während deutsche Stukas im heulenden Inferno alles zerschlugen, was nach Gegenwehr aussah. Zuerst ungläubig, dann zunehmend begeistert nahm man die unglaubliche Effektivität der "modernen", mechanisierten Kriegsführung zur Kenntnis. Zum Vergleich: der gesamte Polenfeldzug dauerte nur 36 Tage und kostete bei den angreifenden Truppen 15450 deutschen Sodaten und 819 deutschen Offizieren das Leben - in der Schlacht an der Somme im ersten Weltkrieg wurden alleine am ersten Tag der Schlacht 19000 angreifende englische Soldaten getötet, davon allein 8000 in der ersten halben Stunde!

Bombennächte oder Flucht und Vertreibung waren noch vollkommen unbekannt und undenkbar - auf der einen Seite der Frontlinie jedenfalls. Deshalb wurden auch die ersten, wenigen "eigenen" Opfer des Krieges mit großem propagandistischem und materiellen Aufwand unterstützt und entschädigt. Mittel waren genug vorhanden, nicht zuletzt auch durch das hemmungslose Ausplündern der deutschen Bevölkerung jüdischen Glaubens, unter denen in nicht geringer Anzahl ebenfalls hochdekorierte Veteranen des ersten Weltkriegs waren, die wiederum somit den "Dank des Vaterlandes" am eigenen Leib erdulden mussten.

Daß deshalb der erfahrene, dienstältere und dazu noch "ausgebombte" Apotheker mit einer bereits existierenden Apotheke den Vorzug vor einem Pächter bei der Übergabe einer Apotheke bekommen hatte, mag in diesem Kontex vollkommen nachvollziehbar sein - so ärgerlich und tragisch es für Julius Schmidt auch gewesen sein mag. Zusätzlich muß Michler noch ein weiterer, finanzieller Vorteil zugestanden werden, denn nach knapp fünfzehn Jahren Selbständigkeit hatte er vermutlich größere finanzielle Mittel als Schmidt. Spekuliert werden kann natürlich auch, daß im damals recht "braunen" Steinen ein Parteigenosse (was bisher nicht nachgewiesen ist, allerdings wiederspricht die prächtige Dekoration der Apotheke bei späteren politischen Feiertagen dem auch nicht) sicherlich größere Chancen hatte als ein "politisch Neutraler".

Was allerdings zusätzlich zu berücksichtigen wäre: bestimmt gab es einen ordentlichen Kulturschock für die Familie Michler. Direkt aus einer großen Innenstadtapotheke am Rhein, an den Hauptverkehrstangenten Basel und Freiburg mit dem entsprechenden kulturellen und gesellschaftlichen Angebot, hin ins doch eher abgelegenen Steinen, einem vergleichweise einfachen "Kuhkaff" verschlagen zu werden, war bestimmt auch nicht unbedingt der Traum aller schlaflosen Nächte der Familie Michler.
Insoweit mag eine gewisse Frustration des Wilhelm Michler in den späteren Jahren auch nur allzumenschlich und verständlich sein.